Montag, 15. Juni 2009

Die Veröffentlichung der Tagebücher

Es ist, und das können Sie mir glauben, gar nicht meine Art, die Tagebücher eines mir nahe stehenden Menschen ohne dessen Einverständnis der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ich erachte dies grundsätzlich als unhöflich, ja falsch. Doch die Tagebücher meines verstorbenen Vaters Karl Oskar Hermann von Hohenried sind so eklatant spannend, so aussergewöhnlich anstössig und herrlich lasterhaft, dass mit ihrer Geheimhaltung die Geschichte eines beispiellosen Bonvivant verloren gingen.

Es war ein Sonntag im Sommer 2008, als ich im Dachstock unseres Sommerhauses am Bodensee die Tagebücher meines Vaters fand. Ich hatte ihn nie persönlich kennen gelernt. In meiner Kindheit lag ich oft lange wach und fragte mich, wer dieser Mann war, dessen blosse Erwähnung meiner Mutter die Röte ins Gesicht trieb und den Schnurrbart meines Stiefvaters zum Beben brachte. Einmal erwischte mich Mutter, als ich mit Stefanie - einem blonden Mädchen mit hübschen Sommersprossen - am Abend küssend hinter dem Fahrradhäuschen sass. Mutter jagte Stefanie davon und schalt mich, ich würde, fände ich nicht den Weg Gottes, genau wie mein Vater. Von diesem Tag an fühlte ich mich zutiefst mit Papa verbunden.

Derweil war alles, was ich von ihm besass, eine Sammlung seltener senegalesischer Borkenkäfer, ein goldenes Monokel, ein Gehstock mit einem goldenen Knauf und einer geheimnisvollen Gravur und ein Kreissäge-Hut, von der meine Mutter behauptete, er habe Sir Winston Churchill gehört. Nun sass ich auf dem Boden des Dachstocks und starrte auf die allesamt in rotem Leder gefassten Bände. Natürlich musste ich sie lesen, und ich muss gestehen, dass die Lektüre dieser Tagebücher punkto Spannung - und nicht zuletzt Unanständigkeit - alles in den Schatten stellte, was ich bis dahin gelesen hatte. Gegen meinen Vater war der Graf von Monte Cristo eine gefühlsblinde Krämerseele, Don Juan de Marco ein unterkühlter Pensionär, Hamlet ein Hasenfuss, Michael Kohlhaas ein trockener Bürokrat.

Mein weitsichtiger Anwalt riet mir, grosse Teile der Tagebücher nicht zu veröffentlichen. Viele Menschen, die privat oder geschäftlich mit meinem Vater verkehrten und in den Anekdoten meines Vaters erscheinen, besetzen heute noch führende Rollen in Wirtschaft und Politik, und es liegt mir fern, die Integrität dieser Leute zu gefährden, geschweige denn mich vor Gericht zu verantworten. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, Geschichten aus den Tagebüchern meines Vaters stückweise der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, abwartend, wie die Reaktionen ausfallen. Sie werden dies bestimmt verstehen.

Erster Eintrag, 4. April 1944